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Über die Ängste in Zeiten von Corona

Wie wir mit ihnen umgehen und ihre Folgen

Selbst wenn ein Impfstoff in greifbare Nähe gerückt ist, hat Corona unser Leben fest im Griff. Kontaktbeschränkungen, Lockdowns und Ängste prägen unseren Alltag. Doch wie gehen wir mit unseren Ängsten um? Was können wir gegen sie tun? Zu diesem Thema sprachen wir mit Frank Lücke, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Dr. rer. nat. Frithjof Niegot, Diplompsychologe, Leitender Psychologe einer Tagesklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.

Frank Lücke, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Diplompsychologe Dr. rer. nat. Frithjof Niegot beschäftigen sich mit Ängsten in Zeiten von Corona. Foto: Andreas Gillner

Herr Lücke, Zeiten in denen die Covid-19 unser Leben beherrscht, sind beängstigend. Wer leidet besonders darunter?

Lücke: Das Phänomen „Angst“ ist auch nicht automatisch mit „Krank-sein“ gleichzusetzen, Angst ist meist eine physiologisch notwendige und gesunde Reaktion, um uns vor Gefahren zu schützen. Bei der aktuellen Infektionssituation kennen wir sicherlich alle eine erhöhte Wachsamkeit bzgl. Krankheitssymptomen wie Husten, Niesen etc. Dieses ist sinnvoll, weil sie uns instinktiv schützt. Menschen mit einer vorbestehenden Angsterkrankung sind unter Umständen in der aktuellen Situation stärker belastet als nicht betroffene Menschen, da diese unter erhöhtem Stresserleben leiden und vorhandene Ängste verstärkt werden können.

Herr Dr. Niegot mit welchen Ängsten wenden sich die Patienten an Sie?

Niegot: Bezogen auf die Corona-Pandemie haben viele Menschen natürlich Angst vor Ansteckung, Ängste um Angehörige, die sich infizieren könnten, Angst vor finanziellen Notsituationen, die aus der aktuellen Situation entstehen könnten wie Jobverlust, Arbeitslosigkeit und Existenzängsten. Allgemeiner sprechen wir von Sorgen, die aktuell verstärkt auftreten können.

Können Sie eine bestimmte Altersstruktur ausmachen? Sind es eher jüngere oder älter Menschen, die betroffen sind?

Lücke:  Das Alter ist insgesamt weniger bedeutsam. Vielmehr sehen wir in allen Altersgruppen inzwischen eine Veränderung. Anfangs waren viele eher sorglos, inzwischen wird der Ernst der Lage stärker wahrgenommen.

Ab wann halten Sie diese Ängste für behandlungsbedürftig?

Lücke: Es gibt keine allgemeingültige Definition, ab wann und ab welchem Schweregrad Ängste behandlungsbedürftig sind. Hier spielen Bewältigungs-Mechanismen der betroffenen Personen, Resilienz und individuelle Schwellenwerte eine entscheidende Rolle. Vereinfacht gesagt ist der individuelle Leidensdruck der Personen entscheidend, und inwieweit die Angst das selbstbestimmte und sinnhafte Leben einschränkt und Entwicklungsmöglichkeiten reduziert. Wenn die Angst vieles im Leben bestimmt oder gar lähmend ist, dann sollte professionelle Hilfe aufgesucht werden.

Wie können Sie diesen Angstpatienten helfen?

Niegot: Bewährt hat sich die kognitive Verhaltenstherapie mit einem schrittweisen Vorgehen, vereinfacht etwa:

  1. Zunächst nehmen wir die berichteten Ängste ernst und hören zu.
  2. Aufklären über die Erkrankung, psychosomatische Zusammenhänge, Symptome von Stress, Suche nach möglichen Ursachen.
  3. Unterscheiden zwischen berechtigter und unberechtigter Angst. Beispielsweise ist die Angst davor, sich selbst und andere mit Sars-CoV-2 anzustecken, sicher aktuell berechtigt. Die Angst vor Spinnen hat aber nichts mit der tatsächlichen Gefahr durch Spinnen in Mitteleuropa zu tun. Steckdosen und Autos sind viel gefährlicher.
  4. Raus aus der Hilflosigkeit – was kann jeder selbst tun? Bei Covid-19 heißt das, sich an die vorgegebenen Kontakt- und Abstandsregeln zu halten, Hände waschen, Husten- und Nies-Etikette usw.
  5. Pausen, Freizeitgestaltung und ausgleichende Aktivitäten, Entspannungsverfahren, um Belastungen zu reduzieren oder einen Ausgleich zu schaffen.
  6. Lernen, mit Gedanken anders umzugehen, nicht jede Befürchtung ernst nehmen, nicht alles glauben, was das Gehirn an Gedanken produziert.
  7. Beim Umgang mit unberechtigten Ängsten ist die Konfrontation wichtig, also sich trotz Angst den Situationen auszusetzen.

Auch die Kapazitäten einer Tagesklinik werden irgendwann ausgeschöpft sein, wann wird es soweit sein?

Lücke: Die Nachfrage nach unseren Angeboten war auch vor der Corona-Pandemie bereits sehr hoch.

Aktuell haben wir unsere Behandlungsangebote flexibel angepasst (z.B. Infektionsschutz). Die Patientinnen und Patienten der Tagesklinik und Ambulanz werden weiterhin betreut. Zum beidseitigem Schutz von Patienten und Mitarbeitern wurde jedoch das telemedizinische Angebot massiv ausgebaut; Patienten werden telefonisch und per Mail, in Zukunft auch per Videotelefonie betreut, so dass die Versorgung weiterhin sichergestellt ist. Bundesweit gibt es aber zu wenige Psychotherapeuten und Psychiater für die seit Jahren zunehmende Zahl an Menschen, die professionelle Hilfe benötigen.

Was kann jetzt jeder Einzelne gegen seine Ängste tun? Welche Ratschläge können sie den Menschen auf den Weg geben?

Niegot: Jeder selbst kann einiges für sich tun, nur einige Beispiele:

  1. sich über die eigenen Ängste klarwerden, mit anderen sprechen
  2. den Sorgen nur begrenzt Zeit einräumen, nicht ständig fernsehen oder im Internet recherchieren, sondern z.B. auf eine Stunde am Tag begrenzen
  3. nur seriöse Quellen nutzen, nicht auf Gerüchte und Einzelmeinungen von medizinischen Laien vertrauen
  4. auch die eigenen Gedanken nicht zu ernst nehmen
  5. für den Körper sorgen: genug trinken, gesundes Essen, ausreichender und regelmäßiger Schlaf, Bewegung und Sport, Ruhepausen, frische Luft und Tageslicht
  6. für die Psyche sorgen: ausgleichende Tätigkeiten, positive soziale Kontakte, sich nicht über- oder unterfordern, Aufgaben und Hobbys, Tagesstruktur

Lücke: Für den Kontakt zu anderen Menschen können alle Kommunikationswege genutzt werden, z.B. Telefon, Videotelefonie, E-Mail, Briefe, Social-Media etc. Hobbys können reaktiviert werden wie Lesen, Basteln, Malen, Handwerken, Gartenarbeit – insgesamt sinnhafte Beschäftigung mit Dingen, die einem etwas bedeuten und den Fokus von der Angst weglenken.

Wie beurteilen Sie als Psychiater Ausgangs- und Kontaktsperren?

Lücke: Mit dem Verstand des Mediziners sehe ich Ausgangs- und Kontaktrestriktionen als richtige Maßnahme, die Epidemie zu verzögern, und dadurch die Behandlung Schwerstkranker zu verbessern -, Stichwort #FlattenTheCurve. Mein psychiatrisches Herz wünscht sich natürlich, dass diese dann aufgehoben oder gelockert werden sollten, sobald es sicher möglich ist. 

Viele, vor allem ältere Menschen fühlen sich wieder aufgrund mangelnder sozialer Kontakte einsam, was können diese tun?

Niegot: Vieles was bei Ängsten hilft, hilft auch gegen Einsamkeit. Der Schwerpunkt liegt natürlich mehr auf den sozialen Kontakten.

Wenn möglich sollten soziale Kontakte ohne räumliche Nähe gesucht werden, zum Beispiel per Telefon, Videochat, soziale Netzwerke. Aber auch Treffen zu zweit sind ja weiterhin möglich, beide Personen sollten sich an die strengen Richtlinien halten und mit insgesamt möglichst wenigen anderen Menschen Kontakt haben.

Auch eine Tagesstruktur ist wichtig, eine Beschäftigung für die vielen Tage, vielleicht kann Liegengebliebenes erledigt, der Keller noch mal aufgeräumt werden oder ähnliches. Jetzt kann auch Zeit für Sport und Bewegung sein. Viele nehmen seit langem wieder an Gottesdiensten teil, wenn auch nur per Livestream vom heimischen Sofa aus.

Für Nachbarn, Freunde und Angehörige kann das ein Anlass sein, Hilfe anzubieten, Einkäufe zu übernehmen oder auch nur kurz per Telefon nachzufragen, ob alles in Ordnung ist. Wenn diese Angebote angenommen werden, haben beide Seiten etwas davon.

Befürchten Sie nach dem Ende der Pandemie Auswirkungen auf unsere Gesellschaft? Wenn ja welche?

Lücke: Eine schwierige, aber wichtige Frage, die wahrscheinlich viele Menschen bewegt. Ich bin der Überzeugung, dass sich durch die Pandemie und den damit verknüpften Erfahrungen einiges verändern wird. Die konkreten Auswirkungen bleiben abzuwarten, und sind erst zu beurteilen, wenn diese überstanden sind. Die große gesellschaftliche Solidarisierung der Menschen untereinander ist jedoch etwas, was mich auch in der aktuellen Situation jetzt schon tief bewegt. Als Arzt wünsche ich mir, dass die Bedeutung eines gut funktionierenden medizinischen Systems durch die aktuelle Situation verstärkt wahrgenommen wird. Das könnte ein Abbau von restriktiver Bürokratie sein, eine bessere Ausstattung mit Geld und Material, eine bessere Anerkennung der Leistungen im Gesundheitssektor.

Niegot: Ich habe zwar Befürchtungen, aber viel mehr noch Hoffnung. Natürlich kann es zu mehr sozialer Distanz und Egoismus kommen. Vielleicht stärkt sich aber auch das Gefühl, dass wir alle in einem Boot sitzen, vielleicht entsteht mehr Solidarität und Rücksicht.

Wie die Gesellschaft nach der Pandemie aussieht, hängt auch davon ab, was Menschen während der Pandemie erleben. Wer sich abgehängt fühlt von der Gesellschaft oder wer viel Streit erlebt, wird sein Verhalten eher daran anpassen. Wer aber Solidarität und Freundlichkeit erlebt, der wird auch anschließend eher solidarisch und freundlich sein. Unsere künftige Gesellschaft hängt also davon ab, wie wir uns heute verhalten, als Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen, aber auch wie solidarisch sich Arbeitgeber und Politik zeigen.

Werden wir mit mehr traumatisierten Menschen rechnen müssen? Wenn ja, welche Personengruppen werden am Stärksten betroffen sein?

Lücke: Bei Menschen mit bereits bestehenden Traumaerfahrungen können sich Symptome verschlechtern. Diese Menschen bedürfen sicherlich besonderer Fürsorge.

Viele sind auf unterschiedliche Art belastet, Covid-Erkrankte leiden teilweise unter Luftnot und Angst, Angehörige haben Angst um die nahestehenden Menschen, Verkäuferinnen haben Angst vor Ansteckung, Einsame können sich einsamer fühlen, Menschen mit Depressionen depressiver werden. Da sind wir alle gefordert, uns gegenseitig zu unterstützen und nicht allein zu lassen, dann können langfristig psychische Schäden verringert werden.

Niegot: Wichtig ist, dass wir auf die Profis aufpassen, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind. Das sind neben Ärzten und Pflegenden auch Rettungskräfte und anderes medizinisches Personal, Polizei und Feuerwehr, auch Reinigungs- und Sicherheitspersonal und andere. Sie benötigen Unterstützung in allen Bereichen, mit genug Material, Kinderbetreuung, Erholungszeiten, Informationen. Sie sollten entlastet werden von unnötiger Bürokratie oder Angst um ihren Arbeitsplatz. Die Solidarität aus der Bevölkerung ist dabei wohltuend, entsprechende Hilfen vom Arbeitgeber und aus der Politik sind notwendig.